Die Familie F. baut einen Hühnerstall. 1938 waren mein
Vater siebenunddreißig und meine Mutter achtunddreißig Jahre alt, mein Bruder
Herbert sieben und ich, Ewald, neun. Wir wohnten im Hause meines Großvaters väterlicherseits,
eines Kleinbauern, der tagsüber zehn Stunden lang in einer Bekleidungsfirma
als Bügler arbeitete, mit schweren 'Plätteisen' und glühenden Bolzen, die ihm
ein Heizer anreichen musste. Die Landwirtschaft erledigte er 'nebenbei', in
den Sommermonaten ab vier Uhr morgens und an den Wochenenden. In der
Erntezeit aber mussten alle Familienmitglieder helfen. Die Großeltern hatten sechs Söhne und eine
Tochter. Nur diese durfte etwas lernen, den Beruf einer Näherin. Die Söhne mussten
zur Ernährung der Familie beitragen, als sie, vierzehn Jahre alt, die Schule
verließen. Sie wurden Handlanger, danach Hilfsarbeiter und schließlich
Arbeiter in verschiedenen Fabriken, mein Vater zunächst in einer Tischlerei.
Als er im Alter von siebenundzwanzig Jahren meine Mutter kennenlernte, wollte
er möglichst schnell viel Geld verdienen für die Gründung eines Haushaltes.
In einer Kohlenzeche des Ruhrgebietes wurde er Wagenschieber, tausend Meter
unter der Erde. Jedes zweite Wochenende kaufte er sich eine Fahrkarte für die
Reichsbahn. Meine Mutter aber wollte ihn häufiger sehen. Sie holte ihn
persönlich zurück und bat ihn, wieder zu tischlern. 1928 konnten sie heiraten
und Vater wurde auch ohne Prüfung ein von seinen Chefs und den Kollegen
anerkannter Tischler mit besonderen Fähigkeiten. Das schrieb man ihm sogar in
die Zeugnisse. 1938 hatte mein Vater für die schon
genannten vier Personen zu sorgen, als Alleinverdiener mit einem Stundenlohn
von etwa 1,50 RM brutto, soweit ich mich erinnere. Dazu fuhr täglich mit
einem aus alten Teilen zusammengebauten Fahrrad etwa 10 Kilometer zur
Arbeitsstelle, im Sommer und im Winter. Er war das anerkannte und von uns
Kindern bewunderte Oberhaupt der Familie. Wieviel Stunden mag er täglich,
wöchentlich, monatlich gearbeitet haben? Waren es 9, 50 einschl. samstags, 200?. Im Sommer hatte er trotzdem noch Zeit für den Garten
zur Selbstversorgung mit Gemüse und Früchten (Thema unter Nachbarn: wer hat
die dicksten Kartoffeln?), und im Winter außerdem für Basteleien,
'Erfindungen' und Reparaturen. Unsere Wohnung im Hause der Großeltern lag
im Obergeschoß. Die einzige 'Wasserstelle' befand sich im Erdgeschoß.
Notwendiges Utensil für die kleineren 'Geschäfte' war ein Nachttopf, der im
Schlafzimmer stand und zur Entleerung morgens nach unten und dann noch etwa
vierzig Meter weit bis zu einem 'Plumpsklo' am Endes
des Stalles getragen werden musste. Darin wurde von allen Hausbewohnern ein
Teil des Düngers für die Landwirtschaft erzeugt. Alle Hausfrauen in unserer Nachbarschaft
hatten damals noch Waschtage, im Abstand von zwei bis vier Wochen. In unserer
'Waschküche' (dort wurden auch die Schweine geschlachtet) stampfte meine
Mutter die Wäsche in der Lauge mit einer 'Waschglocke'. Herbert, bald acht,
und ich, bald zehn, mussten helfen. Mutter schwärmte von einer Waschmaschine
der Firma Miele mit Holzbottich und Handantrieb. Eine solche mit Motor kam
nicht einmal in ihren Träumen vor, obwohl sie schon einen Staubsauger von
Miele besaß, der in kleinen Raten bezahlt werden musste. Die Wäsche wurde im Freien auf der Leine
getrocknet. Allgemein bekannt war, dass manche Nachbarinnen diese genau
'beäugten', wegen der Sauberkeit, und die einzelnen Stücke zählten, um Fleiß
und 'Wohlstand' der Wäscherin sowie der zur Wäsche gehörenden Familie
festzustellen. Herbert, einige Kinder aus der
Nachbarschaft und ich waren besonders stolz, wenn wir genügend Papier und
Holzstäbe organisiert hatten, um in den Sommermonaten daraus unsere Drachen
zu bauen. Als Klebstoff benutzten wir eine Mischung aus Mehlbrei und gekochten
Kartoffeln. Wenn es nicht regnete und der Wind nicht zu stark war, hielt
dieser Kleister die Drachen ziemlich lange in der von uns geplanten Form.
Immer aber hatten wir Probleme mit den Schnüren. Die waren zu schwach, wenn
wir uns aus den Nähkästen der Mütter bedienten, oder zu schwer, wenn wir es
mit Großvaters Bindegarn für Getreidegarben versuchten. Im ersten Fall
stiegen unsere Drachen rasant nach oben und zerrissen die viel zu schwachen
Fäden, im zweiten erhoben sie sich wegen des Gewichts der Schnüre selten und
nur kurz ein paar Meter über den Boden. Trotzdem versuchten wir es immer
wieder. Wir waren zäh und Optimisten. Wenn unsere Mutter Pläne für Vater hatte,
sagte sie nicht: Richard, bitte mach dieses oder jenes. Das war nicht sehr
erfolgreich. Sie wählte in diesen Fällen meist die kluge Frageform: Richard,
kannst du vielleicht dieses oder das machen? Dabei betonte sie das 'kannst
du' in einer Weise, die Zweifel verdeutlichen sollte. Das hatte noch immer
geholfen. Vater bewies dann, dass er es konnte. Eines Tages fragte Mutter ihn: Kannst du
eigentlich einen Hühnerstall bauen? Dann brauchten wir keine Eier zu kaufen.
Ich könnte dir täglich ein gekochtes mitgeben zur Arbeit, und die Kinder
könnten wir auch besser ernähren... Vater antwortete, daran hätte er auch
bereits gedacht. Schon lange! Aber wer bitte sollte das bezahlen, das Holz
für Wände und Dach, das Glas für die Fenster und die Teerpappe als Schutz
gegen Regen und Schnee? Und dann die Hühner. Die seien doch sündhaft teuer! Mutter hatte bereits einiges organisiert,
wie immer, wenn sie Pläne für Vater machte. Ein älterer Landwirt in der Nähe
lagerte größere Holzvorräte in einem offenem Schuppen,
darunter Baumstämme, die zu dünnen Brettern geschnitten waren, mit Rinde,
verschieden breit und teilweise auch krumm. Du kannst dir holen, was du
brauchst, erklärte sie. Wilhelm hat es im Rücken. Er möchte nur, dass du ihm
bald den Roggen mähst... Viel hat er ja nicht... Also mähte Vater den Roggen für den Nachbar
Wilhelm, an einem Wochenende, samstags und sonntags, mit der Hand, und holte
sich das Holz für den Hühnerstall. Genauer, wir alle holten es, in einem
Handwagen, 'Bollerwagen', wie wir sagten, in mehreren Fuhren. Mutter kaufte
drei Glasscheiben, nicht zu groß, und organisierte auch noch ein paar
Quadratmeter Teerpappe für das Dach. Nur -- das Holz war 'wie gewachsen', mit
Rinde, unbesäumt, wie Vater fachmännisch erklärte. Ist das ein Problem für dich? fragte
Mutter. Sie wusste, wie Vater darauf reagierte. Dann war seine Phantasie als
Erfinder grenzenlos! Und in diesem Fall war für ihn der Augenblick gekommen,
in dem er wieder einmal eine seiner Erfindungen verwirklichen konnte. Aus
einer Handsäge (einem großen Fuchsschwanz) machte er ein rundes Sägeblatt mit
einem Loch in der Mitte. In den äußeren Rand feilte er viele Zähne. Als
Werkstatt diente ein Teil des Bodenraumes im Hause meines Großvaters. Das
Sägeblatt befestigte Vater irgendwie an der verlängerten Achse der
Vorderrad-Nabe eines Fahrrades. Für die andere Seite konstruierte er eine Holzrolle,
um dort einen Treibriemen anbringen zu können. Diese Teile verband er so mit
einer Holzkonstruktion, dass oben aus einem Schlitz nur das Sägeblatt
herausragte, etwa drei Zentimeter weit. Alles wurde auf einem alten Tisch
befestigt. Die Antriebsrolle ragte seitlich heraus. Wir alle drehten daran
und staunten über Vaters Werk. Das Sägeblatt bewegte sich wirklich.... Im
Kreis, wie erwartet! Vorwärts und rückwärts. Vater erklärte uns, in welche
Richtung wir drehen mussten, damit die Zähne 'greifen' konnten. Im Handbetrieb brauchten wir anschließend
eine halbe Stunde, um in ein dünnes Brett einen etwa fünf Zentimeter langen
Schnitt zu sägen. Es (das Sägeblatt) muss sich viel schneller drehen,
erklärte Vater. Lasst mich nur machen... Er kannte die Formel und rechnete
uns vor: Umfang ist gleich Durchmesser mal 'Pi'. Die Holzrolle an der
Fahrradnabe hat einen Durchmesser von vier Zentimetern, das Hinterrad von
Ewalds Fahrrad dagegen von siebzig Zentimetern. Eine Radumdrehung bedeutet
fast 20 Umdrehungen des Sägeblattes. Das wird genügen. Ewald fährt ja gern
Fahrrad....
Nur Mutter bekam Zweifel an
Vaters neuer Erfindung. Wir Kinder dagegen nicht. Mein schönes altes
Fahrrad wurde aufgebockt, nachdem hinten Gepäckträger, Schutzblech, Decke und
Schlauch entfernt waren. Vater schnitt einen Treibriemen so zu, dass er auf
die Felge des Rades und die Holzrolle an der Säge passte. Und dann ging es
los. Ich fuhr Fahrrad, guckte nach vorn, sah die Hauswand vor mir, durch ein
kleines Fenster ein Stück vom Himmel, kam keinen Zentimeter voran und konnte
auch nicht sehen, was hinter mir geschah. Dort schob Vater das erste Brett
auf den Sägetisch. Mutter und Herbert sahen zu, voller Erwartung und zugleich
kritisch. Das Sägen begann - und Vaters Loben und Ansporn: Schneller, noch
schneller! Du schaffst es! Nicht aufhören! Es muss Minuten gedauert haben,
bis von hinten das erste Brett zu mir herankam, sich unendlich langsam neben
mir nach vorn bewegte und schließlich eine gerade Kante hatte. Mir verging
die Lust am Fahrradfahren. Ich schwitzte und 'japste', wie Mutter
feststellte. Das ist zu anstrengend für ihn, erklärte sie kategorisch.
Spätesten beim zweiten Brett bricht er zusammen. Ich werde es versuchen...
Dann radelte Mutter, vielleicht zehn Minuten lang, bis das erste Brett auch
an der anderen Seite zur Hälfte 'besäumt' war. Es ist unmöglich für uns,
sagte sie zu Vater. Wir sind zu schwach. Ich werde das Brett an die Säge
halten und du radelst! Vater hatte Zweifel an Mutters Fähigkeiten, die
Verantwortung für das Gesamtwerk zu tragen. Schließlich aber strampelte er
doch ein paar Minuten und sah manchmal nach hinten, um festzustellen, ob
Mutter auch 'auf dem Strich blieb'. Er schien froh zu sein, dass ihr dies
nicht besonders gut gelang. Als das erste Brett schließlich mit zwei ungefähr
geraden Kanten an der Wand stand und von allen bewundert wurde, konnte Mutter
unseren Vater überzeugen, dass mit diesem Antrieb der Kreissäge mehr als
hundert Bretter mit einer Länge von etwa von etwa drei Metern niemals
entstehen würden. In den nächsten Tagen konnte ich wieder
richtig mit dem Rad fahren. Vater aber dachte nach. Mutter erwartete seine
Vorschläge. Mit großem Argwohn beobachtete sie, wie Vater zunehmend ihren
fast zur Hälfte bezahlten Staubsauger von Miele betrachtete. So geht es,
erklärte er schließlich. Du leihst mir den Motor und ich säge
damit die Bretter für den Hühnerstall... Nach drei oder vier Tagen, an denen
Vater jegliche häusliche Arbeit verweigerte, willigte Mutter schließlich ein.
Vater baute das Motörchen aus. Es war etwa halb so
groß wie seine Hand. Er befestigte es unter der Fahrradnabe am Sägetisch. Ein
neuer Treibriemen, aus dem alten geschnitten, verband beide. Sogar der Stromanschluß funktionierte irgendwie. Vater überlebte
ihn, weil er etwas davon 'verstand'. Dann heulte das Motörchen
mit einigen tausend Umdrehungen, und das selbst gebastelte Sägeblatt auf der
Fahrradnabe pfiff beängstigend. Es drehte sich rasend schnell und war fast
unsichtbar. Am nächsten Abend sollten die Bretter
gesägt werden. Vater nahm das erste und zeichnete hinter der 'Schwarte' einen
geraden Strich, auf dem er sägen wollte. Mutter,
Herbert und ich sahen aufmerksam zu. Wir bewunderten unseren Ernährer und
seine Ideen. Es wird schnell gehen, sagte er. Du, Ewald, stellst dich hier
neben die Säge und pustest, damit ich den Strich immer sehen kann. Und kann ging es los, das Heulen des Motörchens und das Pfeifen des Sägeblattes waren
gewaltig. Vater schob das Brett, und ich pustete den Sägestaub zur Seite.
Herbert wollte auch pusten. Nur Mutter sah zu und faltete die Hände. Ich wusste
nicht, ob sie betete. Trotz des rasenden Sägeblattes mit mindesten
dreitausend Umdrehungen in der Minute, wie Vater prahlte, dauerte es etwa
eine halbe Stunde, bis das zweite Brett an beiden Seiten besäumt war und zum
ersten an die Wand gestellt werden konnte. Mutter schien bereits
auszurechnen, wie lange es dauern würde, bis das hundertste dort stand. Beim dritten Brett wollte Vater beweisen,
dass es auch schneller ging. Das Motörchen und das
Sägeblatt schienen zu stöhnen, als er dieses Brett schneller vorwärts schob.
Ich pustete pflichtgemäß, und Mutter faltete wieder die Hände und hatte
Angst. Man sah es an ihren Augen. Ich pustete bald nicht nur Sägestaub,
sondern auch Rauch zur Seite. Mutter rief entsetzt: Es brennt!!.
Vater aber meinte beruhigend: Ist nur das Sägeblatt... Es wird ein bisschen
heiß... Ist aber nicht schlimm... Irgendwann kurz danach, noch beim ersten
Sägeschnitt im dritten Brett, ereigneten sich drei Dinge innerhalb einer
Sekunde. Ein Blitz erhellte den Bodenraum. Es knallte gewaltig. Und dann war
es still, absolut! Nur wer genau hinhörte, konnte ein leises Knistern und
Brummen im Motörchen vernehmen. Mutter lief weinend die Bodentreppen hinab.
Herbert und ich erholten uns nur deshalb langsam von unserem Schrecken, weil
Vater Worte verwendete, sehr laut, die wir von ihm noch nie gehört hatten.
Mutter weinte den ganzen Abend, auch beim Essen. Wir Kinder halfen ihr dabei.
Und Vater verließ die Küche schon bald mit schlechtem Gewissen und leerem
Magen. In den nächsten Tagen rechnete der
Lieferant des Staubsaugers aus, wieviel weitere Raten fällig wurden für die
Reparatur des Gerätes von Miele, weil nach seinen Worten jemand entgegen den
Vorschriften am Motor 'herumgefummelt' hatte. Mutter reinigte ihre Teppiche
und Läufer wieder auf der Stange im Freien mit dem Klopfer aus geflochtenem
Rohr. Neugierigen Nachbarinnen erklärte sie, der Händler müsse den Motor
kostenlos reparieren, wegen der Garantie. Das Projekt Hühnerstall aber ruhte, bis
Vater auf Mutters Drängen den Gang nach 'Canossa', genauer: zum Landwirt
Wilhelm, antrat. Wir brachten das gesamte Holz mit dem 'Bollerwagen' wieder
zu ihm zurück. Habe ich doch gleich gedacht. Das wird nichts! sagte
Wilhelm auf Plattdeutsch, für uns Kinder kaum verständlich. Hättest es
einfacher haben können. Wilhelm besaß einen starken zentnerschweren
Elektromotor, mit dem er früher eine Dreschmaschine angetrieben hatte, und
eine riesige Kreissäge. Das Sägeblatt war so groß wie eine Waschwanne, hatte
Zähne wie ein Siebenmeterhai und zerkleinerte große Baumstämme in Minuten.
Motor und Säge wurden mit einem etwa zehn Meter langen Treibriemen verbunden,
der so breit war wie zwei Hände, mit großer Geschwindigkeit lief und sich
etwa in der Mitte zwischen Motor und Säge laut klatschend berührte. In etwas
mehr als einer Stunde hatte Vater die Bretter für den Hühnerstall gesägt. Wir
luden sie zum dritten Mal auf unseren Handwagen, wieder in mehreren Fuhren.
Vater versprach Wilhelm, auch im nächsten Jahr den Roggen zu mähen. Als er
diese Zusage erfüllte, sagte er, dass Wilhelm sie 'ausgenutzt' habe... Wochen später aber war der Hühnerstall
endlich fertig. Innen gab es vier Boxen als Legenester, eine Sitzstange und
darunter eine Platte mit Teerpappe für den Kot. Außen wurde das Holz grün gebeizt.
Viele Nachbarn bewunderten Vaters Werk und machten Pläne, den eigenen Stall
noch schöner und besser zu bauen. Ein größerer Auslauf wurde durch groben
Maschendraht begrenzt. Besonders stolz war Vater auf seine 'Erfindung', eine
Klappe als Hühnertür morgens und abends vom Schlafzimmer aus öffnen und
schließen zu können. Von der Klappe führte eine Schnur durch die Zweige eines
Obstbaumes hindurch zum Haus. Am Schlafzimmerfenster gab es zwei Nägel. Die
Hühnerklappe war geöffnet, wenn die Schnur am unteren befestigt war und
geschlossen, wenn der obere Nagel benutzt wurde. Dann fehlten eigentlich nur
noch Hühner. Dazu hatte Vater ja bereits gesagt, dass sie sündhaft teuer und
unbezahlbar wären. Mutter besorgte ein paar Küken einer
schweren braunen Hühnerrasse, ich meine es waren sechs. Die wurden von uns
allen liebevoll mit Küchenabfällen und etwas Korn gefüttert und waren bald
sehr zahm. Wir Kinder konnten sie auf den Arm nehmen. Wenn wir sie auf die
Teppichstange setzten, die gleichzeitig unserer Turnstange war, und von unten
in die Federn pusteten, waren interessante anatomische Studien möglich. Schon
1939, im Frühjahr, aßen wir eigene Eier, jeden Tag, wenn wir es wollten.
Monate später aber dienten diese auch als Tauschware. Der Krieg hatte
begonnen und die Zuteilung der Nahrung auf Marken. Wir Kinder bestaunten die
Kauffrau an der Straßenecke, wenn diese bei jedem Einkauf mit einer großen
Schere unsere Karten für die Lebensmittel beschnitt. Nur einmal wurde die Freude unserer Familie
an dem Hühnerstall, an den Hühnern und an der Selbstversorgung mit Eiern
erheblich getrübt. 1941 musste Vater, ein Anhänger der verbotenen
Sozialdemokratie, Soldat werden, im zweiundvierzigsten Lebensjahr. Mutter
weinte wieder oft und Vater sprach vom Kriegsgericht und standrechtlicher
Erschießung, wenn er nicht pünktlich am Bahnhof sein würde. Er traf dort eine
halbe Stunde vor der befohlenen Zeit ein und durfte anschließend kostenfrei
mit der Bahn fahren, ein paar Monate später sogar bis nach Russland. Kurz vor seiner Abreise war er sehr nervös
und reagierte gereizt auch auf banale Ereignisse, über die er sonst gelacht
hätte. Das bekam Fritz zu spüren, eine Krähe, die ich im Winter vorher
gefangen hatte und die wegen einiger gestutzter Federn an den Flügeln mit den
Hühnern im großen Auslauf lebte. Fritz balgte sich eines Tages mit ihnen um
den Inhalt des Weichfutternapfes. Es entstand ein wirres Knäuel von hackenden
Schnäbeln, schlagenden Flügeln und kratzenden Beinen, dazu ein so großes
Spektakel von Rufen und Schreien, dass Vater schlichtend eingriff, mit einem
Knüppel. Dabei starb zuerst unsere beste Lagehenne und anschließend auch
Fritz. Ich begrub meinen Vogel und weinte über Vaters Tat. Auch Mutter
weinte, sehr heftig, als sie das Huhn rupfte, und etwas weniger, als sie daraus
Suppe für zwei Tage kochte. Im nächsten Jahr aber hatten wir einen Hahn
und eine 'Klucke'. Die brütete viele Küken aus, zehn oder zwölf. Davon
wollten wir vier behalten. Einige Nachbarinnen kamen zu Mutter und hatten
Zucker, Würste oder Speck als Tauschwaren in ihren Schürzen. Mutter packte
das meiste in Pakete mit Feldpostnummern. Vater sollte sich auch in Russland
über unsere Hühner freuen. |
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Alle Rechte nun bei der Erbengemeinschaft |