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Das Märchen vom Sonnenkind Für meine kleine Gundula. Die Liebeserklärung eines Einundzanzigjährigen
an eine Fünfjährige. Geschrieben unter schwierigen Bedingungen im
Stellberg-Krankenhaus in Bad Driburg im Sommer 1950. Als die Sonne eines Tages schon hoch am
Himmel stand und ihre Strahlen Wärme in alle Winkel und Ecken brachte,
erwachte auch Dreipunkt. Er streckte vorsichtig
seine Fühler aus tastete damit in die Luft, um festzustellen, ob es wirklich
warm genug war. Dann blinzelte er vorsichtig mit einem Auge, und als er sah, dass
draußen alles hell war, stand er schnell auf und krabbelte mit seinen dünnen
Beinchen aus dem Kelch der Glockenblume, in der er die Nacht verbracht hatte. Dreipunkt war ein Sonnenkind. Er hatte diesen Namen bekommen,
weil er drei dicke schwarze Punkte auf seinem roten Rücken hatte. Er war
schon früh in die weite Welt hinausgezogen, um all das Schöne zu sehen, von
dem der Vater und die Mutter erzählt hatten. Wenn die Sonne schien, flog er
weit über das Land und freute sich, weil ihm nichts herrlicher schien, als in
dieser großen bunten Welt leben zu dürfen. Wenn es aber regnete, saß er meist
traurig in einer Blume oder an der Unterseite eines Blattes und konnte gar
nicht verstehen, warum es Sonnenschein und schlechtes Wetter gab. An diesem Morgen nun war Dreipunkt ganz besonders froh. Er hatte gut geschlafen
und dachte mit Freude daran, dass er gleich losfliegen würde, neuen
Erlebnissen und Schönheiten entgegen. Er pfiff vergnügt vor sich hin und trippelte
auf seinen Beinchen zu dem größten Tautropfen, den er auf den Blättern
ringsum finden konnte. Dreipunkt war etwas
wasserscheu. Darum trank er zuerst nur ein wenig und spritzte sich etwas
Wasser ins Gesicht. Dann aber schloss er die Augen, machte mutig zwei
Schrittchen vorwärts und plätscherte mit allen Beinchen im Wasser. "Huuh, was
ist das kalt!" rief er laut. Er schüttelte sich, dass sich das Blatt bog
und er beinahe mit dem Tautropfen zusammen hinabgerollt wäre in die Wiese.
Dann aber horchte Dreipunkt, denn unter ihm rief
eine Stimme ärgerlich: "Was ist das für eine Schelmerei! Nicht einmal am
frühen Morgen hat man seine Ruhe! Rücksicht auf eine alte Frau nimmt niemand
mehr!" Dreipunkt war verblüfft. Er schlich bis an den Blattrand und
sah vorsichtig nach unten. Dort saß an der Unterseite eines Blattes die Frau
Schnecke. Sie machte ein furchtbar böses Gesicht und schimpfte so laut, dass Dreipunkt schnell seine Flügel ausbreitete und davonflog. Siehst Du, meine kleine Gundula, das
Sonnenkind war klug, als es dies tat. Es wusste, das die Sonne schien und wollte sich nicht mit der
Schnecke streiten. Es flog einfach fort und ließ die brummige Schnecke
allein. Sonnenkinder finden immer irgendwo eine Gelegenheit zum Fröhlichsein, auch wenn etwas Böses ihnen die Freude
verderben möchte. Aber nun will ich Dir erzählen, was weiter
geschah. Dreipunkt flog über Wiesen und Felder,
über Wälder und blitzende Bäche hinweg, bis er vor sich eine große Stadt sah.
Beim Anblick der vielen Häuser und Fabriken wurde er ganz ängstlich und beschloss,
zuerst einmal in den Gärten davor zu rasten. Die Luft war voller Staub und
hatte ihn müde gemacht. Dreipunkt suchte sich ein
schönes sonniges Blatt aus und betrachtete von dort die vielen Sachen, die er
noch nie gesehen hatte. Er sah ein kleines Holzhaus und Bäume und Sträucher,
die Blüten trugen oder große bunte Blumen. Dreipunkt schloss verträumt die Augen und dachte an nichts
Arges, als er auf einmal eine Kinderstimme ganz nah vor sich hörte. Die
erschreckte ihn so sehr, dass er vergaß, fortzufliegen und sich in Sicherheit
zu bringen. Gleich darauf wurde er auch schon ergriffen und fortgetragen, in
das Haus hinein, wohin gar nicht die Sonne schien; nur durch ein Fenster
konnte man sie noch sehen. Jetzt ist alles aus! dachte Dreipunkt, als ein kleines Mädchen ihn in die Hand nahm,
heftig drückte und zu der Mutter lief. Er konnte ja nicht verstehen, dass das
Kind ihm nichts tun wollte. Er verstand es nicht, was dieses mit jubelnder
Stimme rief. Sonst wäre er gewiss weniger ängstlich gewesen. In dem kleinen Holzhäuschen saß die Mutter
des Mädchens. Die wurde sehr ernst, als ihre Tochter sagte, dass sie das
Sonnenkind in einen Kasten sperren wollte, um es jeden Tag zu sehen und sich
daran zu erfreuen. Sie nahm eine Hand des Mädchens und sagte: "Sieh,
jedes Tier hat der liebe Gott gemacht; jedes Tier soll so leben, wie er es
wollte. Das Sonnenkind in deiner Hand wird unendlich traurig sein, wenn es
immer im Kasten sitzen muss und niemals mehr die Sonne sieht. Willst du es
nicht wieder fliegen lassen?" Das Mädchen nickte. Dann brachte es Dreipunkt nach draußen in die warme Sonne. Weil Dreipunkt aber noch so erschrocken war,
dass er sich überhaupt nicht rühren konnte, beugte das Mädchen den Kopf und
hauchte ganz vorsichtig, bis das Sonnenkind die Wärme spürte, seine Flügel
ausbreitete und davonflog. Das Mädchen im Garten freute sich, als es Dreipunkt fliegen sah und die Sonne dann besonders freundlich schien. Das Sonnenkind aber fliegt noch heute in der weiten Welt umher, das Sonnenkind, das Dreipunkt heißt, weil es drei dicke schwarze Punkte auf seinem roten Rücken hat. Hast Du es schon gesehen? |
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Alle Rechte nun bei der Erbengemeinschaft |